Zusammen denken — Issue #75

Ann Cathrin Riedel
11 min readJan 24, 2021

Vergangene Woche gab es leider keinen Newsletter, dafür viel anderen Trubel bei mir. Ich wurde offiziell zur Direktkandidatin für den Bundestag der FDP in Friedrichshain-Kreuzberg/Prenzlauer Berg Ost gewählt — mit 100 Prozent. Da wird man dankbar und demütig. Den Tag über wurde ich von einem Journalisten begleitet, der junge Kandidat:innen porträtiert. Eine Hackhähnchen-Enthüllungsstory wird es leider nicht, macht Euch keine Hoffnung! Dafür wurde auch am selben Tag an dem Tisch, an dem ich sonst meine Freund:innen zu Gast habe, meine Einschätzung für Pro Siebens Galileo zu Donald Trump und der Twittersperre abgedreht. Einen Tag davor war ein anderes Kamerateam da. Was daraus wird, erzähle ich nächste Woche. Viel Trubel also. Deswegen habe ich auch nicht so viel gelesen, wie ich eigentlich wollte.

Zusätzlich kam ja noch der Clubhouse-Hype hinzu. Dazu unten mehr. Meine Meinung zur Plattform hat sich rasant geändert. Dachte ich anfangs noch, dass man dort vielleicht endlich Räume hat, um miteinander zu denken — kommt man doch viel zu wenig dazu seine noch nicht abgeschlossenen Gedanken mal zu formulieren und mit anderen an ihnen zu denken. Das geht in Video-Panels nicht, das geht in Texten schlecht und in Tweets schon gar nicht. Aber in Audio-Formaten, bei denen man auch krumm und schief herumliegen kann (ich kann gerade sitzend und in eine Kamera guckend echt nicht denken), dachte ich, dass es gut geht. Nur sind die Debatten dort ruckzuck die gleichen lahmen wie sonst. Das Fishbowl Format macht es zwar partizipativ, aber weiter kommt man mit diesem Format meiner Meinung nach nie. Und ich habe gemerkt: zuhören lernen, das ist etwas, an dem unbedingt gearbeitet werden muss. Dachte ich doch, olle 240-Zeichen Tweets neigen zu Missverständnissen, aber es ist wirklich überall so.

Ich bleibe also lieber in meinem eigenen Denkraum. Den hab ich nämlich mit meinen besten Freunden digital aufgemacht und wenn wir schon nicht an meinem Esstisch mit Wein und Essen sitzen können und über aktuelle Geschehnisse schwadronieren können, dann machen wir das jetzt digital und philosophieren mit unseren unterschiedlichsten Expertisen und Blickwinkeln über ein Thema. Sehr bereichernd — die Statements für Galileo wären sonst nicht geworden wie sie sind. Und extra Bonuspunkt: Man braucht da keine Angst haben, dass man was Falsches sagt und es gleich journalistisch verwertet wird. Ist im Clubhouse schon der Fall.

Also, statt Hype: nehmt Euch ein Buch oder “trefft” Freund:innen. Bereichert meines Erachtens mehr, wenn Ihr Impulse für Euer Denken sucht (dennoch ist Clubhouse spannend!)

Habt eine schöne Woche,

Ann Cathrin

P.S. Hier sind jetzt über 1.000 Abonnent:innen! Tausend Dank an Euch alle fürs Lesen!

P.P.S. Wenn Ihr es noch nicht gehört habt, hört Euch das Gedicht von Amanda Gorman von der Inauguration Joe Bindens an! “There is always light, if only we’re brave enough to see it; if only we’re brave enough to be it.”

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WHAT TO KNOW

So, Clubhouse. Alle reden drüber, ich bin auch vergangenen Sonntag auf den Hype aufgesprungen und habe mich angemeldet und ziemlich lange auf dieser Plattform verbracht. Vermutlich ist der Hype so groß, weil wir alle in unserem Lockdown nichts zu tun haben, Sonntag war und man sich für eine Interaktion dort nicht ordentlich anziehen müsst (müsst Ihr für diesen Newsletter auch nicht 😉). Kurz, was Clubhouse ist und warum sie so viel Kritik erfährt:

  • Clubhouse ist eine Audio-Only Plattform. Kein Video, keine Chats — nichts anderes ist möglich.
  • Man kann Räume eröffnen oder einem beitreten. Die Person (oder die Gruppe), die den Raum eröffnet hat, ist auf einer digitalen Bühne und kann miteinander reden — wie im Podcast.
  • Zuhörer:innen können dazu kommen oder einfach wieder den Raum verlassen, ohne dass es jemand merkt (beste Funktion, tbh!). Sie können sich aber auch melden und wenn sie dran genommen wurden, auf der Bühne auch etwas sagen oder fragen.
  • Räume/Veranstaltungen können auch geplant werden. Wer regelmäßig welche veranstaltet, kann irgendwann einen “Club” anmelden — bisher gibt es aber noch keine aus Deutschland.
  • Die App kommt aus den USA, ist dort seit Frühjahr auf dem Markt und ist natürlich ein Produkt aus dem Silicon Valley.
  • Sie ist nur für Apples iPhone momentan verfügbar und man kann nur über eine Einladung Mitglied werden. Ein typischer Marketing-Moove: Was Exklusives will jede:r haben.
  • Hier aber eines der Probleme: Um Leute einladen zu können, muss man sein gesamtes Adressbuch hochladen, bzw. freigeben. Das erfährt gerade zu Recht sehr viel Kritik. Ob es gegen die DSGVO spricht, da ist man sich noch nicht einig. Wir kennen das von anderen Apps: WhatsApp zum Beispiel. LinkedIn fragt auch gerne danach, das Adressbuch hochzuladen, triggert einen jedoch nur und zwingt einen nicht. Clubhouse kann man auch nutzen ohne das Adressbuch hochzuladen, man kann dann aber niemanden einladen. Profitiert also nur davon, dass jemand anderes bereit war, seine Kontakte preiszugeben.
  • Clubhouse zeichnet die Gespräche auf. Das wird vielfach kritisiert, soll aber dazu dienen, dass Missbrauch geahndet werden kann. Wird kein Gespräch in einem Raum gemeldet, soll die Aufnahme wieder gelöscht werden. D.h. nur wenn jemand meldet, dass es Verstöße gegen die Richtlinien, also zum Beispiel Hate Speech gab, wird die Aufzeichnung gespeichert. Ja, man hat ein mulmiges Gefühl, aber ich frage mich auch, was bei Audio-only die Alternative für Content-Moderation wäre?
  • Schließlich hat die App in den USA bereits heftig mit Missbrauch und Unterwanderung von Rechten zu kämpfen. Es scheint also ein Mangel an guter Moderation etc. zu liegen.
  • Weiterer Kritikpunkt: dass die App nur für iOS verfügbar ist. Ist blöd, aber ich denke, dass eine Android-Version bald nachgezogen wird. Denke, das ist eine Entscheidung des Unternehmens. Dass dort nun viele Talks stattfinden, die eine große Gruppe an Menschen ausschließen, finde ich auch blöd. Allerdings haben wir das immer und überall. Zu ganz vielen Gesprächen ist der Zugang für eine bestimmte Gruppe nicht möglich. Sei es, weil sie am falschen Ort wohnen, nicht auf E-Mail-Verteilern sind, oder eben nicht in irgendwelchen Zirkeln verkehren (die brauchen meines Erachtens nicht mal “elitär” sein.)
  • Mit der DSGVO hat die App noch ein paar andere Probleme. Sie scheint sich mit ihrer Privacy Policy bislang gar nicht auf den europäischen Markt vorbereitet zu haben. Hier muss die App wirklich dringend nachbessern.
  • Bei Clubhouse arbeiten aktuell wohl neun Mitarbeiter:innen. Dort muss nun kräftig aufgestockt werden, um den ganzen Anforderungen an die App gerecht zu werden, wenn sie am Markt (rechtlich) bestehen will.
  • (ich verspreche nicht, dass die Liste vollständig ist….)

Also, wer immer noch unter FOMO leidet: Ihr verpasst meiner Meinung nach nicht arg viel. Zwar tummeln sich dort auch einige Politiker:innen, aber nach einem kurzen Gefühl von Austausch über die Parteigrenzen hinweg, habe ich da Gefühl, alle tummeln sich wieder in ihren eigenen Bubbles und fühlen sich dort mit ihren immer gleichen Themen und Gesprächen wohl. Wobei es schon angenehmer ist, dass sich Leute zuhören und aussprechen lassen (auch wenn ersteres noch ausgebaut werden kann). Und man kann niedrigschwellig mit Spitzenpolitikerinnen und Ministern diskutieren. Hat auch was. Man fragt sich aber, woher man noch Zeit für diese Plattform nehmen soll. Wir werden sehen. Ich denke aber, dass wir dringend Räume für besseren Austausch und bessere Diskussionen miteinander brauchen.

Übrigens zum Thema Bubbles: Die einen sagen, man kann leicht raus, die meisten sagen, man ist wieder in der eigenen. Ich sage: Es liegt an den Leuten, denen man folgt. Eine Bubble platzt nicht von alleine. Wenn ich kein Interesse an Menschen außerhalb meiner Bubble habe, dann muss ich auch aktiv suchen, ich kann nicht erwarten, dass mir alles zugeflogen kommt. Allein schon politisch aktiven Menschen mit Migrationsgeschichte folgen, kann helfen, mal andere Räume und damit andere Blickwinkel auf Leben zu sehen. Man muss halt wollen.

Clubhouse — der Social-Media-Hype der Stunde — Nachrichten — WDRwww1.wdr.de

Angela Merkel sieht die Sperre Donald Trumps kritisch. Sie findet es nicht gut, dass Unternehmen darüber entscheiden, wer was sagen darf und wer nicht. Ich auch nicht. Irritierend aber, dass Merkels Regierung das NetzDG verabschiedet hat, das genau das vorsieht: Unternehmen müssen darüber entscheiden was rechtswidrig ist und was nicht. Etwas, das wir Kritiker:innen dieses Gesetzes von Beginn an scharf kritisiert haben. Der Rechtsstaat und rechtsstaatliche Verfahren dürfen nicht an private Unternehmen ausgelagert werden. Julia Reda geht in ihrer Kolumne nochmal auf den irritierenden Umstand ein und auch darauf, dass sich selbst deutsche Behörden äußert schwertun mit der strafrechtlichen Beurteilung von Aussagen von Staatsoberhäuptern — am Beispiel vom wohl bekanntesten Fall außerhalb der USA, wo Twitter nicht eingeschritten ist. Dazu auch im nächsten Text mehr.

Eine Beschwerde nach dem NetzDG gegen einen Tweet von Irans politischem Oberhaupt Chamenei, in dem dieser Israel als „bösartiges Krebsgeschwür“ bezeichnet hatte, das „ausgerottet“ werden müsse, wies das Bundesamt für Justiz mit der fadenscheinigen Begründung zurück, die Aussage stelle keine Volksverhetzung dar, weil sie sich nicht gegen einen Teil der in Deutschland lebenden Bevölkerung richte. In Deutschland lebende Israelis werden sich über diese Einschätzung wundern.

Es liegt die Vermutung nahe, dass das Bundesamt für Justiz, genau wie die Unternehmensführungen von Twitter und Facebook, vor der Sperrung von politischen Entscheidungsträger:innen zurückschrecken, weil sie politische Kontroversen vermeiden wollen. Das Problem der Sperrung rechtswidriger Inhalte (und des Schutzes legaler Inhalte vor widerrechtlichen Sperrungen) ist also nicht dadurch gelöst, dass man ein Gesetz zur Plattformregulierung verabschiedet. Für die Bewertung im Einzelfall, welche Aussagen tatsächlich strafbar sind, fehlt privaten Plattformen sowohl die juristische Expertise als auch die gebotene Neutralität, die Gerichte an den Tag legen.

Reda weist auch darauf hin, dass mit dem Digital Services Act der Europäischen Kommission auch Regeln für das automatisierte Sperren von Accounts durch Algorithmen kommen muss. Denn auch hier liegen massenhaft Probleme für die Meinungsfreiheit vor.

Edit Policy: Trumps Verbannung von Social Media — Kritiker verkennen Gesetze | heise onlinewww.heise.de

Donald Trump ist nicht der erste und schon gar nicht der einzige Präsident, der auf Social-Media-Plattformen zu Gewalt aufruft (hier noch ein paar andere Content-Moderations-Mythen). Er war aber der erste, bei dem durchgegriffen wurde. Menschenrechtsorganisationen weisen daher gerade zurecht vehement darauf hin, dass Trump eben nicht der einzige ist und Plattformen es in zahlreichen anderen Ländern unterlassen, einzugreifen, wenn Staats- und Regierungschefs zu Gewalt aufrufen.

In Sri Lanka and Myanmar, Facebook kept up posts that it had been warned contributed to violence. In India, activists have urged the company to combat posts by political figures targeting Muslims. And in Ethiopia, groups pleaded for the social network to block hate speech after hundreds were killed in ethnic violence inflamed by social media.

Ich hoffe sehr, dass nun endlich mehr Augenmerk auf die Verantwortung von Plattformen in aller Welt gerichtet wird und wie sie dort wegen mangelndem Personal für Moderation, fehlendem kulturellen Verständnis für die Region der Content-Moderator:innen und dem wirtschaftlichen Interesse an dem Markt nicht agieren und zulassen, dass Menschen sterben (ich erinnere an den Artikel “I Have Blood on My Hands”: A Whistleblower Says Facebook Ignored Global Political Manipulation). AccessNow hat aufgeschrieben, wie Menschenrechte bei der Moderation von Inhalten geschützt werden können.

Und wem die oben genannten Beispiele noch nicht genug sind, findet hier noch weitere in einem anderen Text zum gleichen Thema:

Meanwhile, the Taliban’s official spokesperson still has a Twitter account. As does India’s Prime Minister Narendra Modi, even as his government cracks down on dissent and oversees nationalistic violence.* The Philippines’ President Rodrigo Duterte’s Facebook account is alive and well, despite his having weaponized the platform against journalists and in his “war on drugs.” The list could go on. Facebook says it has taken action against other world leaders before Trump, but it hasn’t given details.

Hier ist auch nochmal meine Twitter-Liste mit Expert:innen für Content-Moderation.

Facebook and Twitter Face International Scrutiny After Trump Ban — The New York Timeswww.nytimes.com

Plattformen löschen und sperren wahnsinnig viele Inhalte und Accounts. Vieles bekommen wir gar nicht mit. Das ist übrigens auch problematisch für Forscher:innen, die sich mit Extremismus auf Plattformen beschäftigen. Denn sie können gar nicht genau sagen, wie viel sich da tummelt, weil die Plattformen ziemlich vieles sehr schnell löschen und damit nicht mehr ausgewertet werden kann. Deswegen ist ein Zugang zu Daten für die Wissenschaft so wichtig, denn sonst ist das Bild, beziehungsweise Ausmaß völlig verzerrt.

Es gibt übrigens auch andere Plattformen, die zahlreich Deplatforming betrieben. Aus vielerlei Gründen:

Online marketplaces also have a history of kicking users off the platform for bad behavior. In a series of papers, my collaborators and I found widespread evidence of racial discrimination on Airbnb. In response to our research and proposals, coupled with pressure from users and policymakers, the platform committed to a broad set of changes aimed at reducing discrimination. One of these steps (which we had proposed in our research) involved creating new terms of service requiring users to agree not to discriminate on the basis of race in their acceptance decisions. The new terms had considerable bite: Airbnb ended up kicking off more than a million users for refusing to agree to it. Uber also has a history of removing users, from drivers who don’t maintain a high enough rating to 1,250 riders who were banned from the platform for refusing to wear a mask during the pandemic.

Also auch hier nochmal ein Aspekt für den Punkt, dass das alles nicht neu ist. Zeigt aber nochmal mehr, wie dringend es leicht zugängliche Verfahren braucht, damit Nutzer:innen Widerspruch gegen Entscheidungen einlegen können.

Social Media Bans Are Really, Actually, Shockingly Common | WIREDwww.wired.com

WHAT TO HEAR

So und wer von dem ganzen Thema noch nicht genug hat, kann sich den Podcast von Dennis Horn und Jörg Schieb anhören, der unter anderem mit Amélie Heldt über Plattformräte spricht. Facebooks eigenes Oversight Board untersucht jetzt übrigens den Fall Donald Trump.

COSMO Tech: Wer kontrolliert die Internetkonzerne? — Podcasts — COSMO — Radio — WDRwww1.wdr.de
Der 6. Januar 2021 wird zu einem Wendepunkt für die sozialen Netzwerke: Plattformen, die jahrelang ihrer eigenen Verantwortung nicht gerecht geworden sind, müssen sich wohl auf mehr Kontrolle einstellen. Doch wie könnte sie aussehen? Welche Möglichkeiten

WHAT TO WATCH

Meine ausführliche Meinung zum Twitter Bann? Dafür hab ich Ferdinand Sacksofsky, der hat sie aufgenommen 😊

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